Drei Internet-Irrtümer
Warum erstarren wir Printjournalisten so oft in Ehrfurcht vor den Thesen der Netzaktivisten? Warum vertrauen wir nicht auf die Qualität unserer eigenen Arbeit und konzentrieren uns nicht auf sie? Hier schreibe ich meine Meinung zu drei Thesen, die ich für Irrtümer halte.
Irrtum Nummer 1:
Journalistischer Content kann nur crossmedial überleben
Wer auch immer das deutsche Wort Inhalt irgendwann durch den englischen Content ersetzte, hat eines damit ganz sicher erreicht: Wenn über Content gesprochen wird, dann denken wir nicht an Inhalte, sondern nur noch daran, wie wir sie verbreiten. Natürlich ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, denn das beste Produkt ist wertlos, wenn es nicht verkauft wird. Aber es verkauft sich eben nicht allein durch die Verpackung, sondern in erster Linie, weil es ein gutes Produkt ist. Anders gesagt: Wenn unsere Inhalte nicht gekauft werden, dann liegt das zuerst an den Inhalten und nicht am Medium.
Neulich sagte mir der Chefredakteur einer Regionalzeitung: “Wir verlieren jährlich um die fünf Prozent an Auflage. Dem können wir nur begegnen, indem wir unseren Content auf modernen Kanälen anbieten.” Er meinte damit die Bereitstellung von Text und Bildern auf mobilen Endgeräten ebenso wie die Produktion von Videos. Ich fragte ihn: “Warum sollten die Leute, die sich gegen Ihre gedruckten Inhalte entscheiden, diese plötzlich wieder kaufen, wenn sie auf einem Display zu lesen sind oder als Film angeschaut werden können?”
Irrtum Nummer 2:
Printjournalisten scheuen die Interaktion mit ihren Lesern
Diesen Vorwurf hören wir immer wieder, und tatsächlich ist Interaktion mit dem Publikum ein wichtiger Teil publizistischen Wirkens. Dennoch halte ich den Vorwurf für falsch, auch wenn er noch so oft wiederholt wird.
Printjournalisten scheuen nicht die Interaktion, im Gegenteil: Sie praktizierten sie schon, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Leserbriefe sind fester Bestandteil der Zeitungen. In vielen Redaktionen befassen sich eigens dafür zuständige Kolleginnen und Kollegen damit; in manchen gibt es sogar Ombudsleute für die Leser.
Falsch ist auch der Vorwurf, Printjournalisten vertrügen keine Kritik. Natürlich vertragen wir Kritik. Seit es Zeitungen gibt, sind wir ihr ausgesetzt und diskutieren untereinander und mit unseren Lesern darüber. Nur nimmt Kritik im Internet gelegentlich eine Qualität an, die es gebietet, sie gegebenenfalls zu ignorieren.
Ich bin kein Gegner digitaler und crossmedialer Darbietung. Aber ich appelliere immer wieder, nicht den Blick für das zu verlieren, was die Qualität unserer Arbeit und die Bereitschaft der Menschen ausmacht, für die Ergebnisse unserer Arbeit Geld auszugeben. Lasst uns also wieder mehr über Inhalt reden statt über Content.
Irrtum Nummer 3:
Im Internet können die Leser endlich mitreden und die Journalisten kontrollieren
Ja, das können sie. Aber wollen sie es überhaupt? Ich sage: nein. Die meisten journalistischen Produkte sind Frontalmedien, und sie wollen auch als solche konsumiert sein. Mit anderen Worten: Wir behandeln viele Themen, über die unsere Leser, Zuschauer, Hörer, Nutzer gern und viel in der Familie, auf Arbeit oder am Stammtisch diskutieren. Aber sie brauchen uns nicht als Gesprächspartner.
Diejenigen unter uns, die in einer Zeitungsredaktion arbeiten, wissen, wie verschwindend gering der Anteil der Leserbriefe und Leser-Mails an der Gesamtzahl der Abonnenten ist. Ein weiterer Chefredakteur berichtete mir stolz, dass seine Zeitung einmal etwas über 1.000 Briefe und Mails zu einem Thema bekommen hat. Das ist beachtlich, und doch entsprach das knapp 0,5 Prozent der Abo-Auflage. Damit ist noch nicht mal gesagt, dass alle Zuschriften von zahlenden Abonnenten kommen.
Auch die Reaktionen auf Zeitungsbeiträge im Internet werden diesbezüglich überschätzt. Zwar kann in Foren oder bei Facebook einfacher und schneller eine Meinung geäußert werden, doch auch hier übersteigt die Zahl der Wortmeldungen bei den meisten Themen kaum einen geringen Teil der Auflage des entsprechenden Printmediums. Und weitaus größer als bei Briefen und Mails an die Redaktion dürfte der Anteil jener sein, die die Zeitung nicht abonniert haben. Ich wage sogar zu behaupten, dass viele Autoren von Forenbeiträgen im Internet den zugrunde liegenden Artikel gar nicht gelesen haben.
Sollen wir uns also der Interaktion im Web verweigern? Auf keinen Fall! Sie kann unsere Arbeit bereichern, und natürlich war und bleibt es immer wichtig, auf die Fragen und die Kritik unserer zahlenden Leser zu reagieren. Aber wir sollten nicht glauben, dass die Aussicht auf Interaktion mit uns ein potenzielles Kaufargument für nicht zahlende Leser ist. Es sei denn, eine Zeitung schaltet ihre Kommentarfunktion generell nur für Abonnenten frei.
Wäre das nicht mal einen Versuch wert?